Daten aus der historischen und forensischen Anthropologie und der modernen Rechtsmedizin (z.B. forensische Bildgebung) erlauben ein Verständnis über das Verhalten, die Lebensweise und Kultur des Menschen aus verschiedenen Zeitepochen. Somit sind Daten z.B. von Ausgrabungen, in denen menschliche Überreste sowie Kulturgüter, ehemalige Behausungen etc. zutage gefördert und untersucht werden, die Grundlage für zukünftige Analysen. Aus den menschlichen Überresten lassen sich Rückschlüsse auf die Lebenszeit und -weise der Person ziehen; oftmals stehen dafür Knochenfunde zur Verfügung. Bei der Analyse kommt es auf deren Einordnung in das Skelettsystem des Menschen und deren Beschreibung (z.B. Abnutzungsgrad aufgrund harter Arbeitsbedingungen) an. Diese Annotation wird je Knochen und -fragment vorgenommen, aus der deduktiv Lebensweisen der Person oder der Population (anhand eines Gräberfeldes) abgeleitet werden können. Nur durch eine einheitliche Einordnung und Annotation unter Nutzung von Terminologien/Ontologien wird die Vergleichbarkeit der Daten sowie die von ihnen abgeleiteten Ergebnissen und damit ihre Transparenz und Nachhaltigkeit sichergestellt. Terminologien und formale Ontologien stellen somit eine Grundlage der Interoperabilität der Daten entsprechend der FAIR-Prinzipien dar. Ihre Nutzung in der historischen und forensischen Anthropologie bedingt zwei Voraussetzungen.
In diesem Abschnitt stellen wir den aktuellen Stand an Ontologien zur Einordnung von skelettalen Fragmenten in der historischen und forensischen Anthropologie sowie Terminologiedienste, Phänotypisierung und das Softwaresystem AnthroWorks3D dar.
Foundational Model of Anatomy Ontology (FMA) [1, 4] befasst sich mit der Darstellung von Klassen oder Typen und Beziehungen, die für die symbolische Darstellung der phänotypischen Struktur des menschlichen Körpers erforderlich sind. Die FMA ist eine Domänenontologie, die einen kohärenten Bestand an explizitem deklarativem Wissen über die menschliche Anatomie darstellt, das sowohl für Menschen verständlich als auch maschinen-interpretierbar ist. Das Ziel ist, die FMA in die medizinischen Anwendungen zu integrieren und dadurch Konsistenz und Standardisierung bei der Darstellung anatomischer Klassen zu ermöglichen. FMA besteht aus vier miteinander verknüpften Komponenten:
Das Problem der existierenden Anatomie-Ontologien im Kontext des aktuellen Vorhabens besteht darin, dass sich die medizinische und die anthropologische Sicht auf die Anatomie stark unterscheiden. Außerdem werden in Anatomie-Ontologien relevante anthropologische Aspekte (wie z.B. Abnutzungsgrad der Knochen) nicht berücksichtigt.
Terminologiedienste (Ontologie-Repositories bzw. Ontology Lookup Services) sind Plattformen, die Ontologien verwalten und den Nutzern in einer geeigneten Form zurVerfügung stellen. Die meisten Terminologiedienste sind als Webanwendungen verfügbar und bieten zusätzlich einen programmatischen Zugang zu ihren Funktionen bzw. Inhalten mittels (REST) APIs. Sie können sich in den angebotenen Funktionen unterscheiden, bieten aber häufig u.a. komplexe Suche nach Konzepten, erweiterte Browsing- und Darstellungs-Funktionen sowie Verwaltung verschiedener Versionen.
Ontology Lookup Service (OLS) [5] ist ein Repository für biomedizinische Ontologien, das einen zentralen Zugang zu den neuesten Ontologie-Versionen bieten soll. Auf die Ontologien kann sowohl über eine Website als auch programmatisch über die OLS-API zugegriffen werden. OLS bietet verschiedene Möglichkeiten, über Ontologien zu navigieren, sie zu durchsuchen bzw. abzufragen. OLS wird vom Samples, Phenotypes and Ontologies Team (SPOT) am EMBL-EBI entwickelt und gepflegt.
BioPortal [6] wird vom National Center for Biomedical Ontology (NCBO) entwickelt und bietet Zugang zu häufig verwendeten biomedizinischen Ontologien. Verschiedene Funktionen stehen zur Verfügung, wie z.B. Ontologien zu durchsuchen oder nach einem Begriff bzw. nach Mappings zwischen verschiedenen Begriffen zu suchen. Alle über die BioPortal-Website verfügbaren Informationen sind auch über den NCBO-Webdienst (REST API) erreichbar.
AberOWL [7] ist ein Framework für den ontologiebasierten Zugriff auf biologische Daten. Es besteht aus einem Repository für Bio-Ontologien sowie einer Reihe von Webservices und Frontends, die den Zugang auf die verfügbaren Ontologien bzw. Datensätze ermöglichen. Das Repository bietet u.a semantische Abfrage von Ontologien unter Verwendung der Manchester OWL Syntax, Abfrage von Pubmed-Artikeln anhand von Ontologie-Begriffen sowie ontologie-basierten Zugriff mittels SPARQL.
Unter Phänotypisierung verstehen wir die Bestimmung und Analyse von Phänotypen. Dazu zählen Zuordnung des Phänotyps einer Person zu einer Phänotyp-Klasse, Identifikation von Personen mit bestimmten Phänotypen, Bestimmung abgeleiteter Merkmale (Derivate) sowie Unterstützung weiterführender Analysen. Die Phänotypisierung kann durch Entwicklung von Phänotyp-Algorithmen unterstützt werden. Die Algorithmen bestehen aus strukturierten Auswahlkriterien, die dazu dienen, Individuen mit bestimmten Merkmalen zu identifizieren bzw. weitere Merkmale abzuleiten. Die Entwicklung von computergestützten Phänotyp-Algorithmen ist ein anspruchsvolles Problem, das durch verschiedene Gründe bedingt ist. Zum einen hat der Phänotyp-Begriff keine allgemein anerkannte Definition und seine Bedeutung hängt vom Kontext ab. Zum anderen werden die Phänotypen meist als nicht-maschinen-interpretierbare und oft mehrdeutige beschreibende Text-Dokumente spezifiziert, die eine manuelle Übersetzung in eine strukturierte ausführbare Form durch einen Experten erfordern [8]. Jüngste Entwicklungen haben gezeigt, dass die formale Ontologie geeignete Methoden zur Modellierung von Phänotypen bietet, sowie die Forschung und Entscheidungsfindung unterstützen kann [9–12]. Im Rahmen des methodischen Use Case ‘Phenotype Pipeline’ (PheP) sowie der Nachwuchsforschergruppe ‘Terminologie- und Ontologie-basierte Phänotypisierung’ (TOP) wird der Phänotyp-Begriff ontologisch analysiert und aufbauend darauf die Core Ontology of Phenotypes (COP) zur Modellierung und Klassifikation komplexer Phänotypen entwickelt. Außerdem wird in der Nachwuchsforschergruppe TOP an Konzeption und Implementierung einer neuartigen Ontologie-basierten Methode zur Berechnung von Phänotypen aus verfügbaren Daten gearbeitet [9, 10]. In dem intendierten Vorhaben werden Projektpartner von diesen Erfahrungen und Ergebnissen profitieren. Die bereitgestellten Ontologien, Methoden und Tools werden an die Anthropologie-Domäne angepasst, weiterentwickelt und zur Ableitung ontologisch fundierter Anthropologie-Phänotypen eingesetzt.
Das Tool stellt einen Lösungsansatz dar, um 3D-Modelle von Skeletten herzustellen und zu analysieren. AnthroWorks3D hebt sich von anderen Tools ab, in dem es interdisziplinär und anwendungsfreundlich Techniken der Photogrammetrie, Erkenntnisse aus User Experience Research und Knowhow aus der Spieleentwicklung bündelt und mit anthropologischem Fachwissen verknüpft. Erstmals vorgestellt haben die Wissenschaftler:innen aus Mittweida und Göttingen AnthroWorks3D bei der digitalen CIDOC-Konferenz im Dezember 2020.